Jens Reulecke, Buchseiten aus „The Bern Manifestos“ – Abbildung der Serie Wesen ( 21 Plastiken/Unikate), Modelliermasse/Acryl Transparentlack/Knöpfe, H 16 -19 cm, 2024

über das Wesen (in) der Kunst
Interview der Wesen mit Jens Reulecke

 
Was spielt in deiner künstlerischen Arbeit eine wichtige Rolle?

Ich rechne grundsätzlich damit, dass etwas auf mich zukommt und sich offenbart. Die Intuition setzt mich also in Bewegung.

 
Hast du einen „Auftraggeber“?

Ich glaube an ein Gegenüber, das mir die Bälle zuwirft und die unsichtbare Welt bewohnt. Ich spüre, wie diese „Präsenz“ mit mir spielt. Gott, der Deus ludens, trifft als Spielender auf den Homo Ludens.

 
Was treibt dich an – der Glaube an die Kunst oder die Kunst des Glaubens?
Wieso willst du das trennen? Es liegt in der Eigenschaft der Kunst, Dinge transparent zu machen. Etwas zu zeigen, das normalerweise hinter der Oberfläche ruht. Diese Annäherung ans Unsichtbare vollzieht sich ebenso in der „Kunst des Glaubens“. Sie erlaubt mir, mich dieser anderen Welt anzuvertrauen und mich mit ihr zu verbinden. Am Ende ist es die „Offenheit für das Geheimnis“, so wie Meister Eckhart es formuliert, die Kunst und Glauben verbindet.

 
Was bewegt dich?

Die spirituelle Dimension, sagte ich doch schon. Oder? Sie trägt mich über meine Vorstellungskraft hinaus, öffnet Räume, die mir erlauben, mit den jeweils freigesetzten Energien in Kontakt zu treten. Was sich hier zeigt, muss nicht mehr gedacht werden.

 
Was hältst du von Realität?

Pah. Vollkommen überbewertet. Es gibt etwas, das nicht greifbar und doch da ist. Ihr seid der beste Beweis dafür.

 
Wie verortest du dich in der Kunst?
Meine Arbeit konzentriert sich im Beschreiben einer Aura. Das kann eine Performance genauso gut sein wie eine Plastik, was man ja an euch sieht. Ich beobachte schon seit längerem einen Verlust der Aura, der einhergeht mit der Aufhebung der Differenz zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Als Hüter der Kunst kümmere ich mich um das „Wesen der Kunst“, indem ich mich mit ihren ursprünglichen Kräften verbinde. Folglich bin ich überall dort verortet, wo ich diese entdecke. Wie z. B. in den Werken von Fra Angelico. Besonders jene Bilder, die weite Räume der Leere öffnen und energetisch diese andere Welt transportieren. Beuys gehört ebenso dazu. Seine magischen Performances und Aktionen schaffen Nähe zum Fernen. James Lee Byars Inszenierungen ziehen ihre Kraft aus dem Moment, dem „Perfect Moment“, um die immaterielle Wirklichkeit heraufzubeschwören. Richard Long hingegen durchwandert Landschaften, um sie in sich aufzunehmen und so für den Betrachter auf neue Weise zu erwecken. Susana Solano, eine zeitgenössische Bildhauerin, nutzt Zwischenräume, die „Körperloses“ umhüllen und einer abwesenden Gegenwärtigkeit Platz machen. Bei Robert Franks Fotomontagen hingegen habe ich immer wieder das Gefühl, als würde mich eine andere Welt betrachten. Es ist eine Art Spiegel für mich.
Aber: Hey, Moment mal, wer beantwort hier eigentlich die Fragen? Ich? Ihr? (allgemeines Gelächter)

 

Ausstellung – The Bern Manifestos – Installation von Plastiken und Zeichnungen
Die Ausstellung umfasst 21 Plastiken, von denen 20 im ONO und eine Arbeit im Schaufenster eines angrenzenden Geschäftes gezeigt werden. 20 Zeichnungen auf Transparentpapier (OT., schwarzer Buntsift, 2024, ca. H 90 x B 66 cm) begleiten die Plastiken in der Ausstellung.

exhibition dates:
may 3 -July 30 2025

opening
may 3 2025, 3 00 pm
mit der Performance crossings von Jens Reulecke in Kooperation mit Karin Minger und Biliana Voutchkowa
https://www.karinminger.com
http://www.bilianavoutchkova.net/

exhibition venue
ONO
DAS KULTURLOKAL
https://www.onobern.ch/homepage/
https://www.onobern.ch/events/jens-reulecke/

Flyer ONO


im Rahmen der Ausstellung erscheint das Buch
The Bern Manifestos
https://www.jensreulecke.com/the-bern-manifestos-ono-2025/

 

The Bern Manifestos

„Wie seltsam, dass wir sehen müssen, um das wahrzunehmen, was wir nicht sehen können.“ (Hannah Arendt)

Im Oktober 2023 steige ich zum ersten Mal die steilen Stufen hinab, die mich tief hinunter in den „Kulturkeller ONO“ führen. Hier einzutauchen fühlt sich vertraut an. Seit Jahren ist mir der Ort bekannt, der mir längst schon aus der Ferne zuflüstert. Unten angekommen umgibt mich uraltes Mauerwerk. Die Oberflächen des Gesteins aktivieren rasch meine Wahrnehmung, wobei mir vielerlei Gesichter und Fratzen entgegenkommen.

Jahrhundertelang waren die Kellerräume Lager, die seit 1953 das Berner Kleintheater beheimateten. Harald Szeemann organisierte hier die erste Kunstausstellung über den Dadaisten Hugo Ball. 2004 begann das ONO die Räume mit Musik, Tanz, Theater, Literatur und Kunst zu bespielen.

Zurück in Berlin klingt alles nach und bewegt mich, unmittelbar mit den Händen zu gestalten. Ich knete die weiße Modelliermasse zwischen den Handflächen, die Finger sinken in das Material ein. Was mich selbst in Bewegung setzt, erfährt in dieser Eigenbewegung seinen Sinn und bringt das erste von 21 „Wesen“ hervor. Trotz des immer gleichen gestalterischen Konzeptes variiert, was sich bildet. Mal zeigt sich ein Gesicht, mal zwei, mal viele. Diverse Knöpfe erzeugen die Augen, wobei jedes Gesicht signalisiert, welchen Blick es sucht.

Die Wesen, die mein intuitives Vorgehen entlang der Schwelle zwischen „anwesend“ und „abwesend“, hervorgebracht haben, hinterlassen auch ihre Spuren in Form großformatiger, skizzenhafter Zeichnungen auf Transparentpapier. Sie weiten damit die Präsenz der Wesen innerhalb der ortsspezifischen Installation, echogleich, während sie frei im Raum hängen oder an den Wänden auftauchen. Die Wesen wiederum finden sich auf den alten Steinkonsolen entlang der Wände des Veranstaltungsraumes aufgereiht, ebenso neben der Bar, auf der Treppe platziert, die nirgendwo mehr hinführt.
Überdies drängt es die Wesen in den öffentlichen Stadtraum. Eine Plastik, stellvertretend für alle Übrigen, behauptet dort seinen Platz und führt so die Resonanzachse aus den Tiefen des ONO hinaus.

Was sich aus der Ferne zeigt, Grenzen überschreitet und zuweilen fordernd auftritt, spiegelt der Titel des Künstlerbuches „The Bern Manifestos“. Auch hier demonstrieren die Wesen ihre exzentrisch-expressiven, feinfühligen oder wild-widerspenstigen Züge, während die „Dada-Vergangenheit“ anklingt, die ebenso im Klangfluss von Bernward Konermanns Lyrik hörbar wird. Hier wie dort zeigen die Wesen ihr „wahres Gesicht“, treiben Unfug, sind anarchisch, holen zum Befreiungsschlag aus – der Unkontrollierbares und Überraschendes hervorbringt. Nehmen wir mit ihnen Kontakt auf, finden uns rasch die Blicke ihrer imaginären Knopfaugen, obgleich „Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig sind.“

Doch damit nicht genug. – Denn auch die Existenz des Künstlerbuches ist hier quasi das Ergebnis einer konkreten Weisungsbefugnis, ganz im Sinne von „Höhere Wesen befehlen“.
Was hier geschieht, öffnet Spielräume für jene Phänomene, die in der unsichtbaren Welt residieren, hin und wieder die Grenzüberschreitung wagen, sich einmischen, Gewohntes gezielt unterwandern und die Karten folglich neu mischen.

Und so gehört es auch zu ihrem ‚Wesen’, ortsunabhängig zu sein, weshalb sie mich wohl auch erst in Berlin dazu anstifteten, mittels meiner Hände zu gestalten und sich so zu manifestieren, respektive zum ersten Mal öffentlich da zu sein. Diese nomadisierende Seite der „Wesen“ steht für ihre Ungebundenheit, weshalb sich ihre Präsenz real nicht darin erschöpft, allein in Bern ihr „Unwesen“ zu treiben. Ganz im Gegenteil ist mit weiteren Abenteuern zu rechnen, während der abgebildete QR Code dazu einlädt, ihrer Spur zu folgen.
Jens Reulecke

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