Lina Schneider – Einführung zur Eröffnung

Wir haben hier eine Situation wo derjenige, der den Raum betritt, zunächst einmal bevor er überhaupt den Raum erfassen kann um Luft zu holen, sofort in die Auseinandersetzung mit einem sehr hoch aufgeladenen Symbol gerade zu gezwungen wird. Das zwingt mich wiederum zuallererst, darauf Bezug zu nehmen. Ich sehe erst einmal davon ab, ob es möglich sein könnte, dass der Künstler eine möglicherweise in sich ruhende Glaubenshaltung hat oder nicht, das mag seinem Privatleben anheim gestellt bleiben oder nicht. Was wir aber auf alle Fälle wahrnehmen können ist die Maria umgeben von Kupferrohr, einem Teil, das schon allein aus sich heraus für Wärme steht, symbolisch und für eine große Kraft zu leiten. Maria, freigestellt aus ihrem religiösen Zusammenhang ist sicherlich weltweit evident bekannt dafür, dass sie ein Symbol ist und zwar der Barmherzigkeit. Ich denke, das ist doch ganz besonders interessant bei einem Künstler wie Jens den Begriff Barmherzigkeit in einer Zeit wie dieser, in diesem Jahreszeitenrhythmus – wir haben Winter, wir haben Krieg um uns herum, wir haben Krieg zwischen uns, Streit, Hass, Missgunst, Konkurrenz, Angst, Existenzdruck und so weiter und sind dem Begriff Barmherzigkeit eigentlich so fern wie nie zuvor.

Ich bin gestern kurz hier gewesen, um mich einzustimmen auf das, was ich ihnen heute zu dieser Ausstellung sagen kann und hab mich anschließend zu Hause hingesetzt, um mich erst einmal selber von diesem Begriff Barmherzigkeit erfüllen zu lassen. Das Erste, was ich dabei verspürt habe, ist die große Fremdheit mit der wir eigentlich schon in eine Distanz gegangen sind zu diesem Begriff. Was ist eigentlich Barmherzigkeit? Barmherzigkeit ist etwas, was – ich würde mal sagen, ein ganz besonderer Ausdruck von Menschlichkeit, von Mitmenschlichkeit, von Verständigung, von Anteilnahmen aneinander, vor allen Dingen aber auch an Verzeihen und Verständnis und aufeinander zugehen – Nöte abnehmen, sich gegenseitig entlasten, in Freundschaft zueinanderstehen. Ich könnte diese Aufzählung unendlich fortsetzen und sie sicherlich alle zusammen mit mir. Die große Frage ist: was hat das in einer Ausstellung zu suchen?

Ist das ein Appell, den der Künstler uns hier hochmoraliensauer, so zu sagen entgegenstellen will? Was will er eigentlich?  Was ich dann auf den zweiten Blick sehr interessant fand, war, dass sich diese Madonnenpräsentation sofort neben einer Arbeit befindet, in der der Künstler eine Auseinandersetzung mit sich selbst durchspielt, geradezu – von allen vier Himmelsrichtungen.

Ohne Rücksicht darauf, wie die Wandmaße sind, ob es kollidieren könnte mit Scheinwerfern, mit Linien, ob die Tür aufgeht und etwas abdeckt oder auch nicht. Ganz radikal dagegen gearbeitet und trotzdem sehr fein und Defizit setzt der Künstler sich auseinander und präsentiert uns zunächst erstmal, ganz platt gesagt, eine Kopflosigkeit. Eine Kopflosigkeit am direktesten zu identifizieren mit einer Auseinandersetzung mit der eigenen Identität.  Stellt der Künstler sich hier möglicherweise, im Gegenüber zu dem Begriff dieser hohen Aufgeladenheit des Symbols Barmherzigkeit, selber in Bezug und hinterfragt sich selber?  Klagt er sich selber an, macht eine Selbstkritik? Macht er eine Selbstuntersuchung?

Wenn wir den Raum anschauen und uns überlegen, was für Materialien hier vorhanden sind, dann haben wir es mit ausnahmslos zeitgenössischen Mitteln zu tun. Das, was der Künstler hier, so zu sagen, als seine Malmittel benutzt, sind Dinge, die ganz typisch zu einer Wegwerfgesellschaft gehören. Wie wir heutzutage unseren Alltag gestalten, wie wir uns Gedanken machen über Materialumgang, über Umweltbewusstsein, durch den Alltag bewegen und diese Materialien auch nutzen mit einer gewissen Achtlosigkeit, Abfälligkeit – es sind keine besonders wertvollen Materialien. Nichts, was uns im Entferntesten auch nur, vielleicht an einen Begriff von Heiligkeit heranführen könnte, also jedenfalls nicht im Alltagssinne. Und dennoch gelingt es dem Künstler ein wahnsinniges Spannungsverhältnis aufzubauen, zwischen einer solch alten Metapher die Wärme, Liebe, Menschlichkeit repräsentiert und einer Ausstellung, die ausnahmslos aus Materialien besteht, die man unter die Überschrift Achtlosigkeit stellt.

Wenn wir uns mit den einzelnen Details der Arbeit beschäftigen, dann erzählt jedes für sich selbst eine kleine Geschichte. Die Flächen, die an den Wänden abgehängt sind, erscheinen uns wie Flächen, die noch gar nicht ausreichend gefüllt sind mit den kleinen Details seiner Untersuchungsergebnisse. Möglicherweise sind wir auch sogar aufgefordert, unsere Untersuchungen denen gedanklich beizufügen. Wenn wir uns auch nur Gedanken darübermachen, was bedeutet Plastikfolie in meinem Alltagszusammenhang? Was habe ich für eine Haltung dazu, Plastikfolie zu benutzen anstelle eines anderen Materials, das umweltfreundlicher ist?

Ich möchte nur ein paar ganz banale Gedanken anreißen oder das weiter zu vertiefen, in den Raum stellen. Für mich ist es sehr spannend, mich so vorgeführt und befragt zu finden und mich der Mühe aussetzen zu müssen, wenn ich die Darstellung schon ernst nehmen soll, meine Erlebnisse gedanklich mit auf die Wände zu projizieren, zu schauen, welche Ordnungssysteme habe ich hier vor mir? Wieso unterscheiden sich die Wände voneinander? Was ist der Fragenkomplex dieser Wand, im Gegensatz zu einer Anderen, die dunkler, kleiner gehalten ist, andere Ausschnitte präsentiert? Welche Ausschnitte meines Lebens, welche Details in meiner Mitmenschlichkeit, meiner emotionalen Ebene bin ich gehalten hier gedanklich zu ergänzen? Und wenn ich „ich“ sage, meine ich selbstverständlich uns alle.

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