Artist in Residence – October and November 2008

A project realized in cooperation with SOUL WORKS FOUNDATION and DIAKONISCHE STADTARBEIT ELIM
,

A ‘public sphere engagement‘ where Jens Reulecke‘s performative language connects with the public domain, with the possibility of transforming the public and beeing transformed by it verse visa.

with Andi, Avilluk, Bruno Bättig, Alessandro Braidotti, Ute Buser, Cello, Elim-Team, Tabea Gebauer, Anne Hagen, Ingrid, Gregor Jolidon, Juri, Ellen Müller, Linus Müller, Christine Pechlivanis, Anja Pollnow, Nadine Seeger, Lukas Siegfried

 

Sieben Wochen lang habe ich mich dem komplexen Beziehungsgefüge der Diakonischen Stadtarbeit Elim und ihrer angrenzenden Aktionsräume ausgesetzt. Aus diesem Grunde wohnte ich in den benachbarten Atelier/Galerieräumen Aspire und konnte mich so unmittelbar diesem Umfeld annähern. Dabei entstanden Begegnungen mit randständigen Menschen, die psychosoziale Schwierigkeiten und Suchtprobleme haben. Diese Begegnungen bildeten die Basis für meine erweiterte Performance Arbeit.
Mein Konzept verfolgte die Absicht die Performance an alltägliche Lebensituationen anzubinden, um so vorhandene  Potentiale zu nutzen und situativ auf sie zu reagieren. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass die ursprüngliche Idee, Menschen in die gewohnte Performancestruktur mit einzubeziehen, von mir sehr schnell verworfen wurde. Ginge doch dabei etwas von der Authentizietät spontaner Begegnungen verloren, an denen ich besonderes Interesse habe.
Was sich entwickelte ist ein vielfältiges Beziehungsgeflecht, zusammengesetzt  aus tastenden Bewegungen,  Annäherungen, Versuchen, Scheitern, Sich-Aussetzen, Abwarten, Ausbrüchen, Mißtrauen, Ablehnung, Hilflosigkeit, Stolz, Offenheit, Tränen, Wutausbrüchen, Vertrauen, Weiter-Gehen,  Halt-Finden, Ertragen,  Scheitern, Loslassen,..
Die Performancearbeit ereignete sich hauptsächlich in der Verborgenheit des privaten Raumes, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Meine Erlebnisse sammelte ich in Form eines Tagebuchs. Es reflektiert die Geschehnisse und ordnet sie unter 16 Titeln, die Phänomene beschreiben, die für mich von besonderer Bedeutung sind.
Sie lauten: Schweben, Erscheinen, Prozess, Transparenz, Spielen, Erlebnisse, Skin, Balance, Spuren, Beziehungen, Let Go, Verborgen,  Verwandeln,  Übergänge, Hier und Dort und Leidenschaft.
Den bildnerischen Arbeiten, die aus dem Workshop-Kontext heraus entstanden,  habe ich die jeweils passenden Titel mit den zugehörigen Tagebuchauszügen zugeordnet und entsprechend in der Ausstellung installiert. Neben Bildern und Zeichnungen sind Fotoarbeiten zu sehen. Sie dokumentieren die Performance ‘Brücke’, die ich mit Tabea Gebauer auf der Mittleren Rheinbrücke realisierte, ebenso Workshop-Schnappschüsse, einzelne Begegnungen und private Aktionen.
Alle 16 Stationen werden am Abend der Vernissage performativ reflektiert. Die Performancearbeit spiegelt verschiedene Erlebnisebenen wieder, die ich über Körperbewegung, Sprache und Sounds erfahrbar werden lasse. Dabei kommt es partiell zu einer Zusammenarbeit mit verschiedenen Performern.


DIARY erscheinen –
Basel, 2008

14.10.08 – schweben
‘Anhalten’, die Situation ertragen, Ungewissheit zulassen – vielleicht  so eine Art ‘Kreuzweg’.
Wie kann ich mich auf Menschen einstellen, die unter völlig anderen Bedingungen leben? Dadurch, dass ich ihnen offen begegne, mein Herz ihnen öffne?
Wie kann ich sie, deren Leben von Abhängigkeiten bestimmt wird, mit einer Weite in Kontakt bringen und etwas  erfahren lassen, dass von anderen Dingen spricht?
Ich muss freigesetzt ersteinmal selbst loslassen. Von meinen Ängsten und Vorstellungen.
Ich möchte diesen unsicheren Raum bewohnen, um den Menschen genau dort begegnen zu können, wo sie sich selbst befinden – in einem Schwebezustand.

15.10.08 – erscheinen
Dinge werden nur dann erscheinen, wenn sie sich in völliger Freiheit zeigen können. Diese Haltung provoziert Optionen, die über gesetzte Ziele hinaus überraschende Wendungen und Erweiterungen  ermöglichen.

16.10.08 – Prozess
Ich lerne mehr und mehr Menschen unter den Bewohnern und den Mitarbeitern vom Elim kennen. Begegnungen, die mir helfen Kontakte zu knüpfen, den einzelnen Menschen näher zu kommen.

17.10.08 – Transparenz
Menschliche Dramen spielen sich hier ab: getrieben, Endlos Schleifen, Misstrauen, Aufschreie, schwankende Tänze am Grad, Angst, geschundene Körper…
Nebelwelten  eines Zwischenraumes, deren Bewohner, verletzt und blutend einander ihre Wunden zeigen, balancieren,  halten, überleben, laufen, rennen, hin u. her-wanken,  Nacht, Narben, Schmerzen, Liebe, Tod, Angst, Freiheit, Wünsche, Wut, dazwischen, Leben, Weiss, fallen, Heute, noch…

24.10.08 – spielen
Vielleicht meint das ja auch den Aspekt des ‘Spielerischen’: sich gemeinsam in Bewegung zu setzen und zu erleben, was dabei geschieht, spontan, experimentell und von Zufällen überrascht zu werden.

 29.10.08 – Erlebnisse
Ich habe meine Arbeit als ‘Performative Installation’ bezeichnet. Wie das genau zu realisieren sei, war im Vorfeld nicht abzusehen. Es wird nun deutlicher, dass mein installierter Lebens- und Arbeitsraum im ‘Atelier Aspire’ Menschen anzieht; besonders auch außerhalb der Workshopzeiten und es zu Begegnungen kommt, Gesprächen, gemeinsamen essen und Café trinken und das dem Performativen erlaubt, sich im Alltäglichen zu ereignen. Im Sinne von ‘Life-Performances’, weder angekündigt, noch geprobt, sondern spontan und ohne Publikum – ein Erscheinen und wieder Abtauchen, wo jeder der Beteiligten im Anderen seine Spuren hinterlässt.

4.11.08 – Skin
My skin: is light, shines, burns, hurts, bleeds, is blue, is dead, has holes, cries, is cold, is fucked up, smells, is white, talks, is on fire, shivers, is wet, has no time, is dirty, knows you, protects me, is soft, feels, is holy, is dark, can see, is angry, hates me, loves you, needs you, touches, is hot, is painted, is gold, is sun burned, dreams, has no time, belongs to me, is clean, reflects heaven, is full of air, is dancing, is like your skin.

5.11.08 – Balance
Warum bist du hier und nicht dort? Diese Frage stellte mir A., ein Elim-Bewohner, vor kurzem.
Hier sein. Da sein. Nicht dort sein. Warum nicht? Sich zwischen dem Einen und dem Anderen befinden; zwar hier und doch das Dort im Auge behalten. Das Leben der Elim-Bewohner spricht sehr deutlich von diesem hier und dort. Mal sehnen sie sich nach dem dort, mal hassen sie es. Befinden sich auf einer Spur, wanken während  sie dort entlang laufen. Stürzen, liegen bleiben, wieder aufstehen und wieder weiterlaufen. Es gibt Ähnlichkeiten in ihren Bewegungen und doch scheint jeder diese Balance etwas  anders zu halten. Was für eine Rolle spiele ich dabei? Ich schaue ihnen zu; beim Stürzen, beim Balancieren. Vielleicht geht es mir darum, ihnen Lust zu machen weiter zu laufen. Ich muss währenddessen selber balancieren,  zusehen, dass ich nicht in die Tiefe stürze und die Hoffnung verliere.

Spuren
Etwas  schreibt sich in mein Leben ein. Ich denke an Schmerzen, es schmerzt – vielleicht diese Nähe von Ohnmacht und Hoffnung. – People are in search of love.
Was ich entdecke, beobachte, was mich begeistert und was schmerzt, erzeugt in mir Worte, Bilder, Klänge und Bewegungen. Ich werde hineingenommen in eine Welt, die ihre Spuren nicht versteckt und merke, wie sich diese Spuren in mein Leben einschreiben.
Wieder steht das Bild des Kreuzwegs vor meinem Auge; sich auf einen unerträglichen Weg zu begeben, dort zu laufen, zu stürzen, sich immer weiter  zu bewegen.

Beziehungen
Nicht meine Ideen, Projektionen oder Erinnerungen der Menschen wahrzunehmen, sondern das wahrnehmen, was wirklich da ist, wie der Mensch erscheint; ebenso meine eigenen Motive, Gefühle und Bedürfnisse. Mich interessiert es nicht, zu kontrollieren und zu manipulieren, vielmehr möchte ich all das, was sich mir zeigt, wahrnehmen und eine Sensibilität entwickeln, die unabhängig von Einordnungen und Bewertungen das sieht, was existiert; hinter all den Fassaden und Theorien.

6.11.08 – let go
Ich kann nur dann loslassen, wenn ich von etwas anderem berührt bin. Von einem Leben das mich auf der anderen Seite erwartet.

9.11.08 – verborgen
Dinge die im Verborgenen existieren kann man leicht übersehen, man kann an ihnen vorbeigehen und sie für bedeutungslos halten.
Was macht das menschliche Leben aus? Sind es die Auffälligen, die Lauten, die großen und strahlenden Erscheinungen? Was ist mit einer Berührung, die fast unmerklich die Hand eines Menschen streift? Was geschieht in mir, wenn ein anderer Mensch mich wahrnimmt?  Mir zuhört? Mir dabei in die Augen schaut? Sich Zeit für mich nimmt und sich für mein Leben interessiert, ohne dabei ständig von sich selbst und seinen Ideen zu sprechen?
Gestern schrieb mir B. in einer SMS: “Es ist manchmal ein unüberwindbarer Schritt zu glauben, dass Menschen ohne Gegenleistung für einen da sind.”
Werte, die im Verborgenen existieren und sich nur dort entfalten können, führen eine fragile Existenz. Sie befassen sich mit Ereignissen und Prozessen, die nur sehr schwer vorführbar und vermarktbar  sind. Zudem stellen sie eine stille Bedrohung, für technokratische Strukturen dar, spricht ihre Botschaft ja direkt ins Herz hinein.
Es ist wie mit der Schönheit, nur wenn sie sich entfalten kann, zeigt sie sich uns und wird uns faszinieren.
Ich denke dabei an mein Gespräch mit R., der mir am Anfang sehr reserviert begegnete. Nach und nach wird sein Schutzwall durchlässiger und er erzählt von sich. Es ist für mich ein Wunder, denn das erste Mal erscheint mir seine Seele, abgelöst von all seinen Schmerz, seiner Traurigkeit und Wut.

10.11.08 – verwandeln
Meine Arbeit besteht darin, einen Handlungsraum zu schaffen. Das heißt, mich so zu  verhalten,  dass ich mit den Bewohnern vom Elim und deren Umkreis in Kontakt komme. Dabei lerne ich Menschen kennen.
Gestern kam es wieder zu verschiedenen Begegnungen. Menschen haben mich in ihr Leben hinein genommen.

12.11.08 – Übergänge
B.besucht mich und wir sprechen über den Verlauf meines Projektes, den Wert von Begegnungen, von Dingen die man im anderen Menschen hinterlässt und wie man selbst von Menschen und Situationen bewegt wird.
Den Anderen wahrzunehmen,  ihn wirklich zu sehen, durch Prägungen und Wertungen hindurch zu schauen, das wahrzunehmen was geschieht und dadurch eine Nähe zu schaffen. Solche Art von Begegnungen haben die Kraft, etwas in dem andern freizusetzen – eben eine lebendige Bewegung,  die verschlossene Räume öffnet.

13.11.08 – hier und dort
Das Beziehungsnetz, das ich bisher spinnen konnte, entwickelt seine Eigendynamik. So kommen mehr und mehr Menschen von sich aus zu mir. Die meisten erzählen ihre Geschichten. Vieles wird dabei freigesetzt und hinterläßt seine Spuren.
Am Abend war wieder  Workshopzeit. Neben L. und A. kam ein neuer Besucher. G. hat vor, an Collagen zu arbeiten. Es scheint zu passen, da seine Gedankenwelt  aus vielen Teilen zusammengesetzt  ist, die kein erkennbares Bild zu ergeben scheinen. Unterhalten wir uns, so verlässt unser Gespräch in kürzester Zeit seinen logischen Bezugsrahmen. Wir befinden uns plötzlich in einem poetischen Wortgefüge, das mit Parametern operiert, die keine Statik kennen. Riesige Luftsprünge schaffen Perspektivwechsel,  entziehen  sich allen Versuchen zu fassen und zu begrenzen. Es ist als ob das Leben in seiner ganzen Fülle atmet und nicht danach fragt wozu. Vielleicht lässt sich diese Realität in irgend einer Weise im Ausstellungskontext kommunizieren

19. -23.11.08 – Leidenschaft
Vielleicht läßt sich zusammenfassend sagen: siehe, ‘was Leiden schafft’.
Möglicherweise eine Antwort auf die Frage: Wie kann sich Leidenschaft im Kontext von Not und Leid überhaupt entwickeln?
Leidenschaft hat zu tun mit Begeisterung, die aber auch immer begleitet ist vom realen Leben, das die ganze Polarität zwischen Freude und Trauer in sich vereint. Aus diesem Grunde ist es ja auch erst möglich sich zu begeistern und Dinge intensiv zu erleben.
Vielleicht geht es um eine Leidenschaft zum Überleben inmitten extremer Begrenzungen. Die Leidenschaft als eine Kraft, die es ermöglicht mit allen Sinnen das wahrzunehmen was ist und so auch immer aus einer Fülle zu schöpfen.

Diary-Texttafeln

link to performance:
https://www.jensreulecke.com/performance-erscheinen-gallery-aspire-basel-2008/

further information:
https://www.soulworks.ch/aspire-2008.php