40-teilige Arbeit, Plexiglas/Acryl/Fotografien, diverse Maße

 

Die Installation 40 Heilige wurde als offizieller Beitrag des Ökumenischen Kirchentages präsentiert und von der kath. Kirchengemeinde St. Dominicus in Zusammenarbeit mit Frau Dr. Christine Goetz, Kunstbeauftragte des Erzbistums Berlin, vorbereitet.

Jens Reulecke: 40 Heilige

Die installation „40 Heilige“ von Jens Reulecke gehört zu den ersten Versuchen im Erzbistum Berlin, einer Gemeinde die Begegnung mit zeitgenössischer Kunst in ihrer Kirche innerhalb eines begrenzten Zeitraumes zu ermöglichen. Das Werk eines zeitgenössischen Künstlers in einer Kirche ist noch immer nicht selbstverständlich und ist die Folge der im 19. Jahrhundert eingetretenen Entfremdung zwischen Kunst und Kirche, die jedoch Jahrhunderte lang Hauptauftraggeber der Künstler gewesen war. Dennoch finden sich im 20. Jahrhundert unzählige Beispiele guter und herausragender moderner Kunst und Architektur und kommt es in vielen Kirchen Deutschlands zu gesuchten und äusserst fruchtbaren Begegnungen zwischen Gemeinde und zeitgenössischer Kunst. Im Alltag der Gemeinden fehlen aber noch immer zeitgenössische Werke, die Auseinandersetzung hervorrufen, neue Perspektiven schaffen oder andere Blickwinkel ermöglichen. Die Gemeinde St. Dominicus ist in Berlin eine der wenigen, die bereits vor drei Jahren Begegnung gesucht und sich für Kunst und Ausstellungen in der Kirche geöffnet hat.

Für den Künstler waren für diese Auftragsarbeit drei Faktoren von Bedeutung: die Berücksichtigung der architektonischen Gestalt des Raumes, die Einbeziehung der Gemeindeglieder und die Schaffung eines religiösen Erfahrungsraumes. Die Arbeit, die zum Osterfest 2003 Fertig gestellt wurde, thematisiert einen inneren, existentiellen Vorgang im gläubigen Menschen, den jede Religion kennt und der im Christentum u.a. in der vorösterlichen, vierzigtägigen Fastenzeit einen besonderen Ort hat: den der Heiligung. Diese  vierzigtägige Zeit hat ihr Vorbild in den vierzig Tagen, die Jesus nach seiner Taufe in der Wüste verbringt, wo er vom Teufel versucht wird, seine absolute Liebe zu Gott aber dadurch erwiest, das er dem Teufel nicht erliegt. Noch einmal mit einer Zeit der Bewährung steht die Zahl 40 im Alten Testament im Zusammenhang: vierzig Jahre wandert das Volk Israel  durch die Wüste in das von Gott verheißene „Gelobte Land“. So verknüpft der biblische Sprachgebrauch die Zahl 40 jeweils mit einer Zeit der Askese und Umkehr, des geistigen Ringens und vorbehaltlosen Vertrauens auf Gott – Voraussetzungen jeder Heiligung, jenes Vorgangs, der den Menschen die Erfahrung des Angewiesenseins auf ein allem Welthaftem überlegenes, absolutes Sein, ein absolutes Gutes machen, sich ihm zuwenden und von ihm fordern lässt.

Bei der Kirche handelt es sich um einen Bau des Architekten Hans Schädel und Hermann Jünemann  aus dem Jahr 1977; der Entwurf wurde in Berlin dreimal verwirklicht.
In den quadratischen, durch eine stark eingezogene, hohe, kegelförmige „Kumpel“ geöffneten Kirchenraum ist durch die Anordnung des Altares, der Altarwand und der Bänke ein Kreis eingebettet. Die Arbeit von Jens Reulecke erhielt durch die Gestalt des Raumes ihre eigene: als hängende Skulptur füllt sie Höhe und Kreis, ist zentriert auf den Mittelpunkt des Kreises, den Altar, um den sich wiederum die Gemeinde versammelt. Die Skulptur besteht aus vierzig Photographien, die Portraits von Gemeindemitgliedern zeigen, männliche und weibliche, junge und alte, ernsthafte und lachende, aus dem Bild heraus blickende und abgewandte, aufgenommen im Alltag des Gemeindelebens. Die Aufnahmen sind verfremdet mit farbigen, scheibenartig wirkenden Plexiglasstücken unterschiedlicher Größe, die teilweise „unordentlich“ über den Bildrand hinaustragen, Licht durchlassen und widerspiegelnd und der Skulptur einen bizarren Charakter verleihend. Gleich einem in Stücke zersprungenen Kirchenfenster knüpft dieses nun „abstrakte“ Fenster an die Jahrhundertealte Tradition des Fensters als Bildträger an.

Vierzig Gläubige, Vierzig Gemeindemitglieder. Vierzig, die im Prozess der Heiligung stehen – vierzig Heilige. Vierzig, die an die Wüstenzeit Israels und Jesu, an die Möglichkeit des Glaubens, Hoffen, Liebens, angesichts der gegenteiligen Möglichkeit erinnern. Vierzig, die für alle stehen und alle mitziehen, die die Gemeinschaft mahnen.
Heilige sind heimisch und fremd zugleich in der Welt. Heilige sind die Verbindung zwischen Erde und Himmel. Heilige sind bizarr, sie sprengen den Rahmen und das Gefüge, Heilige sind nicht blass, sie sind von schillernder, leuchtender Gestalt. Heilige sind vielfältig uns einzigartig. Heilige sind heilig im alltäglichen Leben. Sie sind zu finden unter allen Altersstufen und allen Charakteren.
Altes und Neues Testament sprechen von Heiligkeit: Gott ist heilig und das Volk Israel ist ein heiliges Volk; der Apostel Paulus verwendet den Begriff „Heilige“ und meint damit die Christen. Die Heiligkeit Gottes ist Ursprung und Vorbild der menschlichen Heiligkeit, diese ist die Wirkung der Gnade des heiligen Gottes, durch die der Mensch von Sünde und Schuld erlöst ist.

Den Betrachter der Installation „40 Heilige“ mag beim Blick in die Kuppel ein Zitat des griechischen Kirchenvaters Gregor von Nyssa begleiten: „Wer aufsteigt, hört nie auf, durch endlose Anfänge von Anfang zu Anfang zu schreiten. Wer aufsteigt, hört nie auf, zu ersehnen, was er schon kennt.“ (vom. in Cant. 8).

Cordula Gabbert