Johannes Kögler

DIALOGE IN ZWEI WELTEN

Jens Reulecke bewegt sich in zwei Welten: auf der einen Seite in der westlich-europäischen Kultur, in der er geboren und aufgewachsen ist und seine künstlerische Ausbildung erhalten hat, auf der anderen Seite in der afrikanischen, speziell nigrischen Kultur, in der er seit acht Jahren lebt. Durch regelmäßige Aufenthalte und Ausstellungen in Deutschland ist er kontinuierlich mit der westlich geprägten Kunstszene verbunden und in ihr präsent. Seine Arbeit hingegen wird in zunehmendem Maße von seinen Erfahrungen in Niger geprägt. Diese Prägung meint weniger stilistische Einflüsse afrikanischer Kunst, wie sie vor Beginn des 20. Jahrhunderts her bekannt sind, sondern grundlegende Erfahrungen in einer anderen Lebensweise und Weltsicht. In der aktuellen künstlerischen Arbeit von Jens Reulecke stehen dabei die Fotografie und die Skulptur besonders im Vordergrund.

Die Fotografie                                                                                                 

Die Fotografien von Jens Reulecke muten zunächst fremd und geheimnisvoll an. Sie üben eine Faszination aus, die den Betrachter fesselt und die Bereitschaft weckt, sich auf die Motive und Themen näher einzulassen. Jedes Foto konzentriert sich auf drei Hauptmotive: Landschaft, Kunstwerk und Mensch. Das Kunstwerk kann in einer Skulptur bestehen oder in einer Arbeit mit in der Landschaft vorgefundenen Materialien.

Bevor auf die Motive und Themen der Fotografien eingegangen wird, soll nach ihrem Werkcharakter gefragt werden. Die Fotos sind zum einen eigenständige Kunstwerke. Zum anderen sind sie Dokumente künstlerischer Arbeiten, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Jens Reulecke realisiert in der nigrischen Landschaft künstlerische Projekte, die an Land-art anknüpfen. Mit Setzungen aus Materialien (Erde, Steine), die er in der Lanschaft vorfindet, verändert er die Landschaft. Die Fotografie dient dabei als Medium, diese ortsgebundenen und vergänglichen Arbeiten über den Ort und die Zeit hinaus zu dokumentieren und einem Publikum zu präsentieren.

Ähnliches gilt, wenn an die Stelle der Land-art die Skulptur tritt, die zwar an andere Orte transportiert werden kann und auch wird, die aber an jedem Ort anders erscheint, weil sich der Kontext verändert. Die Fotos dokumentieren nicht allein das Kunstwerk in der Lanschaft, vielmehr kommt mit dem Menschen ein weiteres, auch erzählerisches und aktionshaftes Element hinzu. Der Mensch, hier ein Afrikaner, agiert, er verhält sich auf eine bestimmte Art und Weise zu dem jeweilgen Kunstwerk. Diese Aktion, die auch eine Reaktion auf das jeweilige Kunstwerk in der Landschaft ist, wird in den Fotos nur ausschnitthaft dokumentiert, gebündelt in einem Moment, dessen vorher und nachher nur zu erahnen ist. In den Fotografien werden damit verschiedene Gattungen zeitgenössischer künstlerischer Äußerungen zusammengebracht: außer der Fotografie selbst Skulptur, Land-art und Performance.

Im folgenden sollen vor allem solche Fotografien im Vordergrund stehen, die außer der Landschaft und dem Menschen Skulpturen zeigen, um dann auf die Skulpturen selbst als autonome Kunstwerke einzugehen, denen der Betrachter in einer Ausstellungssituation real begegnet.

Die Landschaft

Die Landschaft ist auf der einen Seite eine ganz bestimmte Landschaft in dem westafrikanischen Staat Niger, die Landschaft, in der der Künstler lebt, die seine Arbeit prägt und die über die Fotografie Teil seiner Werke wird. Auf der anderen Seite ist diese Landschaft, besser ausgedrückt: sind diese Landschaftsausschnitte, die auf den Fotografien zu sehen sind, so unspezifisch, so ohne charakteristische, wiedererkennbare geographische Elemente, daß sie einen allgemeinen Charakter erhalten. Wenn nicht von einer Wüste zu sprechen ist, so zumindest von einer Ödnis, einer kargen und gleichförmigen, fast gestaltlosen Landschaft ohne besondere Merkmale, ohne Markierung, ohne Ort.

Die Skulptur

Welche Veränderung der Landschaft bewirkt nun die Skulptur? Bevor auf diese Frage eingegangen wir, sollen einige der Skulpturen exemplarisch betrachtet werden.

Grundsätzlich handelt es sich bei den Skulpturen um ungegenständliche, d.h. nicht-abbildhafte, sondern vielmehr konkrete Werke, die selbst neu erfundene und geschaffene Gegenstände sind. Einige Skulpturen erinnern an bekannte Gegenstände, scheinen wie zum Gebrauch gemacht. In ihrer Materialität und in ihrem Formenvokabular knüpfen die Skulpturen an Aspekte des Konstruktivismus ebenso wie der Arte Povera und des Minimalismus an.

Die Arbeiten ‚Unit’ (Abb. 16) und ‚Block’ (Abb. 17) bestehen aus Eisen und Holz, zwei sehr gegensätzlichen Materialien. Das Holz als natürliches Material wird nur relativ grob bearbeitet (gesägt und behauen) und in klare, blockhafte Formen gebracht. Das Eisen weist Band- und Winkelprofile auf, Verbindungen werden mit einfachen Schrauben und Muttern hergestellt. Die Oberfläche bleibt weitgehend unbearbeitet, Rost wird bewußt zugelassen. Die Materialität wirkt insgesamt relativ roh und spröde und besitzt dadurch auch eine starke Direktheit und Unmittelbarkeit; sie erinnert an Materialien, wie sie in Handwerk und Industrie Verwendung finden. Im Formalen sind die Skulpturen von großer Klarheit. Alle Formen basieren aud dem rechten Winkel und nehmen damit die drei grundlegenden Raumachsen auf: die Höhe, die Breite und die Tiefe. Holz und Eisen übernehmen in den Skulpturen unterschiedliche Funktionen. Das Holz erscheint als kompakte Form, als Quader in verschiedenen Proportionen, als Volumen. Die Eisenprofile werden zu einer Art Gerüst oder Träger zusammengebaut, die den Raum weniger verdrängen als vielmehr umschließen. Charakteristisch für die Skulpturen von Jens Reulecke ist, daß die Eisenkonstruktionen als Träger für die Holzblöcke dienen, sie halten und umfangen. Das gilt für die Arbeiten ‚Unit’ und ‚Block’ ebenso wie für die Wandarbeiten ‚3x’ (Abb. 20,22), ‚2x’ (Abb. 21) und ‚Schichtung’ (Abb. 23).  Bei der Arbeit ‚Unit’ beschreibt die äußere Eisenkonstruktion einen offenen Quader mit drei unterschiedlich langen Kanten. An den oberen Trägern hängen zwei Flacheisen, die die fünf übereinandergestapelten Holzblöcke tragen. Eine ähnliche Hängekonstruktion findet sich bei der Arbeit ‚Block’, wobei hier zwei Holzblöcke mit Eisenhalterungen in einer bestimmten Distanz und parallel zueinander montiert sind. Beide Skulpturen zeichnen sich also durch einen inneren Holzkörper und ein äußeres tragendes Eisengerüst aus, wobei das Eisen die tragende, das Holz die lastende Rolle übernimmt. Die Skulpturen entfalten sich von innen nach außen: ausgehend von dem massiven, kompakten Holzkern über das konstruktive Eisengerüst, das gegenüber dem Holzkern ein größeres Volumen umschreibt, aber nicht ausfüllt, hinaus in den – leeren – Raum, der die Skulptur umgibt. Das Wort Von der ‚Besitzergreifung des Raumes’ (Henri Laurens) trifft auf sie in hohem Maß und auf zweierlei Arten zu. Während die Holzquader vor allem als Volumen wahrgenommen werden, ist es bei den sie umgebenden Eisengerüsten vor allem die Leere, die sie umschließen. Die Eisenkonstruktionen bestimmen den Raum weniger durch Verdrängung als durch Definition von Achsen, die über die Begrenzung der Skulptur hinausweisen.

Wird eine Skulptur in die Landschaft gestellt, so vollzieht sich mit dieser Landschaft, wie bereits in der obigen Fragestellung formuliert, eine Veränderung. Die Lanschaft, die als gleichförmig und gestaltlos, als Ödnis beschrieben wurde, erhält plötzlich einen Bezugspunkt, eine Mitte. Die Skulptur wird zu einer Markierung in der Landschaft, da sie sich grundlegend von ihrer Umgebung unterscheidet, da sie charakteristisch und individuell ist. Durch die Markierung entsteht in  der Landschaft ein Ort, der sich unter anderem ja dadurch auszeichnet, daß er lokalisiert, beschrieben, benannt, gefunden werden kann – Eigenschaften, die u.a. einen Ort (‚Ort’ hier im ganz allgemeinen Sinne) ausmachen und von ‚Nicht-Orten’ unterscheiden. Mit dem Vorhandensein der Skulptur in der Lanschaft können nun auch räumliche Beziehungen beschrieben werden. Die Skulptur definiert die Landschaft neu, in dem sie quasi das Zentrum, den Nullpunkt eines imaginären Koordinatensystems bildet, das die drei Dimensionen des Raumes angibt.

Ähnliches leisten die Land-art-Setzungen. Die schöpferische, gestaltende, der Entropie entgegentretende Kraft des Künstlers wird bei diesen Arbeiten vielleicht noch deutlicher als bei den Skulpturen. Dem stetigen Streben der Dinge nach gleichmäßiger Verteilung, nach Gleichförmigkeit, das in der fotografierten Landschaft

zum Ausdruck kommt, tritt der Künstler entgegen, indem er dieselben verstreuten Dinge zusammenträgt, in eine bestimmte Ordnung bringt, gestaltet (‚Feld I, II, III’, Abb. 4, 5, 6). Nur durch die augenfällige künstlerische Gestaltung, die von der aufgebrachten Energie ebenso wie von dem gestalterischen Willen zeugt, und nicht durch fremdes Material heben sich die Land-art-Arbeiten deutlich von der Landschaft ab, werden sie ebenso wie die Skulpturen zu Markierungen, die einen Ort schaffen und ihm eine unverwechselbare Gestalt geben.

Der Mensch

Die Wahrnehmung bzw. Erfahrung von Landschaft und Kunstwerk setzt die Anwesenheit des Menschen voraus, sei es als Betrachter und/oder als Agierender. Nun vertritt zwar das Objektiv der Kamera das menschliche Auge in der Rolle des unbeteiligten Betrachters. Darüber hinaus gehend bringt Jens Reulecke jedoch den Menschen direkt als drittes Motiv ins Bild. Der Mensch wird agierend bzw. reagierend gezeigt. Er verhält sich auf verschiedene Art und Weise zu der Skulptur, einmal in regloser Anschauung (‚o.T.’, Abb. 18), einmal in Bewegung, die Skulptur umschreitend (‚Kreisen’, Abb. 15). In anderen Fotografien zeigt er weitere Verhaltensweisen gegenüber der Skulptur oder der Land-art-Setzungen, wie das Einnehmen bestimmter Positionen, das Ausführungen bestimmter Handlungen (‚Rituale’) oder das Beschreiben bestimmter Wege.

Der Mann in den Fotografien repräsentiert trotz seiner Individualität weniger sich selbst, sondern den Menschen in einem allgemeinen Sinne. Er stellt eine Identifikationsfigur dar und steht damit stellvertretend für den Betrachter. Er zeigt Möglichkeiten eines aktiven Dialogs mit den Kunstwerken auf, der über die reine Anschauung hinausgeht und eine besondere Art der Auseinandersetzung und der Aneignung beinhaltet. In einer Ausstellung der Skulpturen und Fotografien von Jens Reulecke wird der Betrachter selbst aufgefordert, in den direkten und unmittelbaren Dialog mit der einen oder anderen Skulptur einzutreten, sie in ihrer körperhaften Präsens, ihrer materiellen und formalen Erscheinung und ihrer Beziehung zum Raum zu erfahren und seine eigene Position zu suchen und zu bestimmen.

Johannes Kögler

DIALOGE IN TWO WORLDS

Jens Reulecke lives in two worlds: on one hand there is the Western-European culture, in which he was born, raised, and where he received his art training; and on the other hand he has been living in Africa, in  the Nigerien culture for eight years. Through regular visits and exhibitions in Germany he has been continually in contact with the western art scene. But his works are being influenced more by his experience in Niger. This influence does not necessarily manifest itself in the stylistic elements of African art that we have seen since the beginning of the 20th century, but rather through basic experiences of another way of life and world view. At present Jens Reulecke’s art work is mainly expressed in photography and sculptures.

Photography

Jens Reulecke’s photographs seem foreign and mysterious. Looking at them isnpires a wish to find out more about the motifs and themes that are portrayed. Each photo concentrates on three main motifs: landscape, man and work of art. The work of art can be a sculpture or pieces of material that were found in the landscape. Before we look at the themes and the motifs of the photography we will examine their character. The photos are individuel pieces of art. But they are also documents of works of art in different aspects. Jens Reulecke puts projects of art in the Nigerien landscape that follow ‚Land Art’. He changes the landscape through the setting of materials (earth, stones) that he finds in the area. Photography is a medium that will transfer these perishable and local works through time and place, and present them to the audience. Something similar happens with the sculptures, so that although they can be transported to other places, they still appear differently in each new context. The photos do not only portray a work of art in a landscape, but with the addition of man they add another active and telling part. Man, in this case an African, acts and reacts in a certain way to the respective work of art. This (re)action is only presented in a concentrated moment in the pictures, focused on one whose before and after can only be guessed. The photographs show different styles of contemporary modern art expressions: photography, sculpture, Land Art and Performance.

We will mainly look at photographs that show sculptures as well as landscape and man, and then move on to sculptures as autonomous works of art that an audience in an exhibition experiences personally.

Landscape

The landscape is on one hand a very special landscape in the West African country of Niger, which influences his art, and becomes part of his works through photography. On the other hand the examples of the lanscape that we see in the photographs are so non-specific, without any characteristic recognizable geographical elements, that they form a broader character. If you do not want to call it a desert, you could call it a desolate place in a bare and conformable almost formless landscape, without special characteritics, without marks, without places.

Sculpture

How does the sculpture affect the landscape? Before looking at his question let us examine some of the sculptures more closely.

Basically these sculptures are non-objective, concrete works, that themselves are new inventions and creations. Some sculptures remind us of known objects and seem to have been made to be put to use. Their material and their form vocabulary follow aspects of Constructivism as well as Arte Povera and Minimalism. The works ‚Unit’ (ill. 16) and ‚Block’ (ill. 17) are made of iron and wood, two very opposing materials. Wood as a natural material is only treated rudimentarily (sawed and carved) and is put into clear blocklike forms. The iron shows band and angled profiles, connections been made with simple bolts and nuts. The surface remains mostly untouched, rust is left on purpose. The material seems relatively raw and unrefined and radiates a strong directness and immediacy. That reminds us of materials that are used in trade and industry. The sculptures show a great clarety in their forms. All forms are based on right angles and take the three basic axes into account: height, width, depth. Wood and iron represent different functions in the sculptures. Wood appears as a compact form, as a rectangular prism in different proportions, as volume. The iron profiles are built together as scaffolds or carriers, that embrace the space rather than occupy it. It is characteristic of Jens Reulecke’s sculptures that the iron constructions are carriers of the wooden blocks, they hold them and encircle them. That is valid for the works ‚Unit’ and ‚Block’, but also for the wall works ‚3x’ (ill. 20, 22), ‚2x’ (ill. 21) and ‚Layering’ (ill. 23). The iron construction of ‚Unit’ describes an open rectangle with three sides of different lenght. The upper carriers hold two flat iron pieces, that carry the five wooden blocks that are layered on top of each other. Something similar can be found with ‚Block’, where two wooden blocks with iron supports are placed a certain distance from and parallel to each other. Both sculptures are characterised by an inner wooden body and an outer carrying iron scaffold. Iron takes the weight bearing of the wood. The scultures unfold themselves from the inside to the outside: starting with the massif, compact wooden center and along the constructive iron scaffold, which compared to the wooden center describes more volume, not filling it but moving into the empty space which surrounds the sculpture. The quotation about the ‚invasion of space’ (Henri Laurens) describes this  event in two ways. While the wooden rectangular prisms are mainly experienced as volumes, the iron scaffolds express the emptiness that they encircle. The iron constructions dictate the space not only by invasion but through the definition of axes which point out beyond the sculptures’ borders. When a sculpture is put in a landscape we can see the changes that this landscape undergoes. Suddenly, the landscape that we characterised as barren and formless, a desolate place, gets a point of relation, a center. The sculpture becomes a mark in the  landscape because it is so different from ist surroundings and so individual and characteric. Though this marking, a place is formed in the landscape, a place that is characterised by being localized, described, named and found. These characteristics are all specific to places in a broad sense and distinguish them from ‚non-places’. With the presence of the sculpture in the landscape we can describe relations in space. The sculpture determines the landcape in a new way, as it gives it a center, a zeropoint in a imaginary coordinate sytem, that shows the three dimensions of space.

The Land Art settings also accomplish something similar. The creative power of the artist that works against entropy can be seen even more clearly than in the sculptures. The constant drive of things to an even distribution that can be seen in the photographed landscape is confronted by the artist in his way to order and create the dissembled parts anew (Field I, II, III, ill. 4, 5, 6). Only in the apparent creativity that is characterised by energy and a creative will and not through different materials, are the Land Art works distinguished differently by the landscape. Like the sculptures they become marks that form a place and give it a unique structure.

Man

The observance and experience of landscape and work of art requires the presense of a human being, as spectator or/and an active participant. The lens of the camera represents the human eye in the role of a passive spectator. But in addition, Jens Reulecke shows man as a third motif in the picture. Man is shown acting and reacting. He relates in different ways to the sculpture, sometimes in still observance (‚Untitled’, ill. 18), and once in motion encircling the sculpture (‚Spin’, ill. 15). Elsewhere he shows other attitudes towards the sculpture or the Land Art settings, in different rituals or in walking certain ways.

Man in the photographs does not represent one individual being but rather man in a broader sense He is a figure for identification and represents the spectator. He shows posibilities of active dialogue with works of art, that goes beyond a mere observance and characterises a special way of interaction and confrontation. In an exhibition of sculptures and photographs by Jens Reulecke, the spectator is asked to come into direct dialogue with the sculptures, to experience them in their bodylike presence, in their material and formal appearance and in their relation to space. He is challenged to find and define his own position.

Paul Corazolla

ORTSMARKIERUNGEN
ÜBER DIE SKULPTUREN UND FOTOGRAFIEN VON JENS REULECKE

Weite, Horizont, Stille. Dahinter ein unendliches Weiter und Mehr. Wie lebt man, wie denkt man, wie fühlt und gestaltet man als europäischer Künstler angesichts solcher Erfahrungen? Kann man sich uns, den Übersättigten, Vollgestopften, nach immer neuen Reizen Gierenden noch verständlich machen?

Jens Reulecke lebt seit 1992 im Niger. Westlicher Zeitgeist hat hier keine Stätte. Horizonte, die unsere Diesseitigkeit bereits gründlich verstellt haben, sind noch offen. Was sich dem Betrachter von Reuleckes Arbeiten zeigt, ist karg. Kargheit ist vielleicht das erste Signal, das aus jener Welt kommt, in der Jens Reulecke lebt. Rauschende Augenfeste, die Opulenz raffiniert-ästhetischer Arrangements, marktschreierische oder egomanische Attituden gehören nicht zum Bestand einer Kunst, die angesichts der Weite und Stille des Landes und angesichts der Kargheit von Lebensmarkierungen ganz andere Zeichen hervorbringt.

Ist diese Zeichensetzung eine anschaubare Alternative zu den uns gewohnten Erfahrungen und Erwartungen? Welche Botschaft hat sie?

Wenn Jens Reulecke von seinen in Afrika entstandenen Arbeiten spricht, verwendet er Vokabeln, die uns im Blick auf zeitgenössische Kunst vertraut sind. Materialien wie Leder, Holz, Eisen, Stoffe, Sand finden sich, – teilweise im Rückgriff auf Elementarkulturen, – in vielen Werken westlicher Künstler. Das sie auch im Werk von Jens Reulecke dominieren, hängt mit ihrer Verwendung im nigrischen Alltag zusammen, aus dem Reulecke den Stoff seiner Arbeiten bezieht.

Jens Reulecke spricht von Orten ‚bewegter Stille’, die in seinen Arbeiten die Stelle einstiger wilder Bewegungsabläufe eingenommen haben. Äußerlich zeigt sich das in einem Ensemble festgefügter, nunmehr oft großzügiger geometrischer Formen, etwa in den Schicht für Schicht aueinander gestapelten Hölzern oder den ineinander ruhenden Formen, die in ihrer reduzierten Klarheit und Dichte eine Aura der Stille und Konzentration schaffen.

Die Fotos der Ortsmarkierungen in der nigrischen Landschaft betonen das Angebot unterschiedlicher Verhaltensweisen in einem gegebenen Raum. Die Möglichkeiten des Menschen sich vorsichtig anzunähern, sich zu verbinden. Ein Spiel mit verschiedenen gleichberechtigten Möglichkeiten von Nähe, das im nächsten Moment zur Ruhe kommt und in die Stille führt.

Spuren einer verborgenen Gegenwärtigkeit sind auf der metallischen Fläche der Wandplastik, ‚in Schwebe’, ablesbar. Auf dem Boden davor steht eine Holzskulptur, ‚Schale’, als Zeichen des Empfangens ebenso wie des Haltens. Beide Objekte zusammen (Abb. 3) assoziieren eine Opferstätte, einen verborgenen Vorgang des Lassens und der Hingabe.

Kargheit der Zeichen, die nichts aufdrängen, sondern behutsam Erfahrungen anregen, einen anderen Zugang zum Leben öffnen möchten. Jens Reulecke spricht von Übergängen in eine andere Sphäre, die er mit dem Ausstellungstitel ‚secret spaces’, geheime Orte, umschreibt. Etwas, das dem Leben innewohnt, sich aber nur bedingt offenbart.

Reuleckes Orte sind jedoch keine Bleibe auf Dauer. Ihre Markierungen sind Zeichen eines Weges, den wir gehen, um unseren letzten Ort, die Welt, am Ende zu überschreiten. Wohin? Jens Reulecke und seine nigrischen Freunde interessiert diese Frage wohl brennender als Show, Fußball und Börsenkurse. Zu recht.

Paul Corazolla

MANIFESTATIONS OF PLACES
JENS REULECKE’S SCULPTURES AND PHOTOGRAPHY

Space, horizon, tranquility. Beyond that an endless space and more. How do you live, how do you think, how do you feel and work through these experiences as an European artist? Can we as over-satiated people who are always longing for new attractions and entertainment still hear a message?

Jens Reulecke has been living in Niger since 1992. Western zeitgeist cannot be found there. Horizons that have been closed behind our world are still visible in Niger. Scarcity is what you experience when looking at Reulecke’s work. Scarcity is the first sign that reaches us from this world where Reulecke lives. You will not find exuberant eyecatching festivals or the opulence of softly esthetic arrangements. Spectacular attitudes don’t belong to this kind of art which evokes distinctly different expressions in the vastness and tranquility of this country and in its scarcity of place manifestations.

Could these expressions be an alternative to the experiences and expectations that we are so used to?  What message do they convey?

When Jens Reulecke talks about his African work he often uses a certain type of vocabulary which is familiar to us through contemporary art. Materials like leather, wood, iron, cloth and sand can also be found in many works of Western artists, to some degree as a reorientation to elementary cultures. Their dominance in Reulecke’s oeuvre is explained by their daily usage by the Nigerien people. Reulecke’s contact with them inspires his choice of material in his works.

Jens Reulecke talks about places of ‚moved tranquility’ which took the place of wild motion of his earlier work. Externally this is visible through the combination of joined generous  geometrical shapes, like the various layers of wooden bars or the forms resting inside of each other which appear in reduced clarity and density while creating an aura of tranquility and concentration.

The photographs of places in the Nigerien landscape stress the possibility of various reactions within a provided space. The possibilities of man to reach out and come into contact. Like playing with various equal possibilities of closeness which can lead to the state of tranquility.

Traces of a diguised presence appear on the metal surface of the wallsculpture ‚in abeyance’. In front of it, placed on the floor is the wooden sculpture ‚bowl’, a symbol for reception and retaining. Both objects (ill. 3) viewed together associate a place of sacrifice, a concealed process of offering and devotion.

Scarcity of signs don’t intrude but stimulate carefully our experiences and like to open up a different door to life. Jens Reulecke talks about crossings into another sphere which is described in the exhibition title ‚secret spaces’. Something which exists in life but is revealing itself only in a limited way.

But Reulecke’s spaces are not of timeless duration. Their manifestations are signs of a road on which we travel to move across our final destination, the world, to ists end. And then where to? Where to? Jens Reulecke and his Nigerien friends are more interested in this question than in show business, football and stock exchange.