Catalogue secret spaces 2002



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DIALOGE IN ZWEI WELTEN
von Johannes Kögler

Jens Reulecke bewegt sich in zwei Welten: auf der einen Seite in der westlich-europäischen Kultur, in der er geboren und aufgewachsen ist und seine künstlerische Ausbildung erhalten hat, auf der anderen Seite in der afrikanischen, speziell nigrischen Kultur, in der er seit acht Jahren lebt. Durch regelmäßige Aufenthalte und Ausstellungen in Deutschland ist er kontinuierlich mit der westlich geprägten Kunstszene verbunden und in ihr präsent. Seine Arbeit hingegen wird in zunehmendem Maße von seinen Erfahrungen in Niger geprägt. Diese Prägung meint weniger stilistische Einflüsse afrikanischer Kunst, wie sie vor Beginn des 20. Jahrhunderts her bekannt sind, sondern grundlegende Erfahrungen in einer anderen Lebensweise und Weltsicht. In der aktuellen künstlerischen Arbeit von Jens Reulecke stehen dabei die Fotografie und die Skulptur besonders im Vordergrund.


Die Fotografie

Die Fotografien von Jens Reulecke muten zunächst fremd und geheimnisvoll an. Sie üben eine Faszination aus, die den Betrachter fesselt und die Bereitschaft weckt, sich auf die Motive und Themen näher einzulassen. Jedes Foto konzentriert sich auf drei Hauptmotive: Landschaft, Kunstwerk und Mensch. Das Kunstwerk kann in einer Skulptur bestehen oder in einer Arbeit mit in der Landschaft vorgefundenen Materialien. Bevor auf die Motive und Themen der Fotografien eingegangen wird, soll nach ihrem Werkcharakter gefragt werden. Die Fotos sind zum einen eigenständige Kunstwerke. Zum anderen sind sie Dokumente künstlerischer Arbeiten, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Jens Reulecke realisiert in der nigrischen Landschaft künstlerische Projekte, die an Land-art anknüpfen. Mit Setzungen aus Materialien (Erde, Steine), die er in der Lanschaft vorfindet, verändert er die Landschaft. Die Fotografie dient dabei als Medium, diese ortsgebundenen und vergänglichen Arbeiten über den Ort und die Zeit hinaus zu dokumentieren und einem Publikum zu präsentieren. Ähnliches gilt, wenn an die Stelle der Land-art die Skulptur tritt, die zwar an andere Orte transportiert werden kann und auch wird, die aber an jedem Ort anders erscheint, weil sich der Kontext verändert. Die Fotos dokumentieren nicht allein das Kunstwerk in der Lanschaft, vielmehr kommt mit dem Menschen ein weiteres, auch erzählerisches und aktionshaftes Element hinzu. Der Mensch, hier ein Afrikaner, agiert, er verhält sich auf eine bestimmte Art und Weise zu dem jeweilgen Kunstwerk. Diese Aktion, die auch eine Reaktion auf das jeweilige Kunstwerk in der Landschaft ist, wird in den Fotos nur ausschnitthaft dokumentiert, gebündelt in einem Moment, dessen vorher und nachher nur zu erahnen ist. In den Fotografien werden damit verschiedene Gattungen zeitgenössischer künstlerischer Äußerungen zusammengebracht: außer der Fotografie selbst Skulptur, Land-art und Performance. Im folgenden sollen vor allem solche Fotografien im Vordergrund stehen, die außer der Landschaft und dem Menschen Skulpturen zeigen, um dann auf die Skulpturen selbst als autonome Kunstwerke einzugehen, denen der Betrachter in einer Ausstellungssituation real begegnet.


Die Landschaft

Die Landschaft ist auf der einen Seite eine ganz bestimmte Landschaft in dem westafrikanischen Staat Niger, die Landschaft, in der der Künstler lebt, die seine Arbeit prägt und die über die Fotografie Teil seiner Werke wird. Auf der anderen Seite ist diese Landschaft, besser ausgedrückt: sind diese Landschaftsausschnitte, die auf den Fotografien zu sehen sind, so unspezifisch, so ohne charakteristische, wiedererkennbare geographische Elemente, daß sie einen allgemeinen Charakter erhalten. Wenn nicht von einer Wüste zu sprechen ist, so zumindest von einer Ödnis, einer kargen und gleichförmigen, fast gestaltlosen Landschaft ohne besondere Merkmale, ohne Markierung, ohne Ort.


Die Skulptur

Welche Veränderung der Landschaft bewirkt nun die Skulptur? Bevor auf diese Frage eingegangen wir, sollen einige der Skulpturen exemplarisch betrachtet werden. Grundsätzlich handelt es sich bei den Skulpturen um ungegenständliche, d.h. nicht-abbildhafte, sondern vielmehr konkrete Werke, die selbst neu erfundene und geschaffene Gegenstände sind. Einige Skulpturen erinnern an bekannte Gegenstände, scheinen wie zum Gebrauch gemacht. In ihrer Materialität und in ihrem Formenvokabular knüpfen die Skulpturen an Aspekte des Konstruktivismus ebenso wie der Arte Povera und des Minimalismus an. Die Arbeiten Unit (Abb. 16) und Block (Abb. 17) bestehen aus Eisen und Holz, zwei sehr gegensätzlichen Materialien. Das Holz als natürliches Material wird nur relativ grob bearbeitet (gesägt und behauen) und in klare, blockhafte Formen gebracht. Das Eisen weist Band- und Winkelprofile auf, Verbindungen werden mit einfachen Schrauben und Muttern hergestellt. Die Oberfläche bleibt weitgehend unbearbeitet, Rost wird bewußt zugelassen. Die Materialität wirkt insgesamt relativ roh und spröde und besitzt dadurch auch eine starke Direktheit und Unmittelbarkeit; sie erinnert an Materialien, wie sie in Handwerk und Industrie Verwendung finden. Im Formalen sind die Skulpturen von großer Klarheit. Alle Formen basieren aud dem rechten Winkel und nehmen damit die drei grundlegenden Raumachsen auf: die Höhe, die Breite und die Tiefe. Holz und Eisen übernehmen in den Skulpturen unterschiedliche Funktionen. Das Holz erscheint als kompakte Form, als Quader in verschiedenen Proportionen, als Volumen. Die Eisenprofile werden zu einer Art Gerüst oder Träger zusammengebaut, die den Raum weniger verdrängen als vielmehr umschließen. Charakteristisch für die Skulpturen von Jens Reulecke ist, daß die Eisenkonstruktionen als Träger für die Holzblöcke dienen, sie halten und umfangen. Das gilt für die Arbeiten Unit und Block ebenso wie für die Wandarbeiten 3x (Abb. 20,22), 2x (Abb. 21) und Schichtung (Abb. 23). Bei der Arbeit Unit beschreibt die äußere Eisenkonstruktion einen offenen Quader mit drei unterschiedlich langen Kanten. An den oberen Trägern hängen zwei Flacheisen, die die fünf übereinandergestapelten Holzblöcke tragen. Eine ähnliche Hängekonstruktion findet sich bei der Arbeit Block, wobei hier zwei Holzblöcke mit Eisenhalterungen in einer bestimmten Distanz und parallel zueinander montiert sind. Beide Skulpturen zeichnen sich also durch einen inneren Holzkörper und ein äußeres tragendes Eisengerüst aus, wobei das Eisen die tragende, das Holz die lastende Rolle übernimmt. Die Skulpturen entfalten sich von innen nach außen: ausgehend von dem massiven, kompakten Holzkern über das konstruktive Eisengerüst, das gegenüber dem Holzkern ein größeres Volumen umschreibt, aber nicht ausfüllt, hinaus in den leeren Raum, der die Skulptur umgibt. Das Wort Von der Besitzergreifung des Raumes (Henri Laurens) trifft auf sie in hohem Maß und auf zweierlei Arten zu. Während die Holzquader vor allem als Volumen wahrgenommen werden, ist es bei den sie umgebenden Eisengerüsten vor allem die Leere, die sie umschließen. Die Eisenkonstruktionen bestimmen den Raum weniger durch Verdrängung als durch Definition von Achsen, die über die Begrenzung der Skulptur hinausweisen. Wird eine Skulptur in die Landschaft gestellt, so vollzieht sich mit dieser Landschaft, wie bereits in der obigen Fragestellung formuliert, eine Veränderung. Die Lanschaft, die als gleichförmig und gestaltlos, als Ödnis beschrieben wurde, erhält plötzlich einen Bezugspunkt, eine Mitte. Die Skulptur wird zu einer Markierung in der Landschaft, da sie sich grundlegend von ihrer Umgebung unterscheidet, da sie charakteristisch und individuell ist. Durch die Markierung entsteht in der Landschaft ein Ort, der sich unter anderem ja dadurch auszeichnet, daß er lokalisiert, beschrieben, benannt, gefunden werden kann Eigenschaften, die u.a. einen Ort (Ort hier im ganz allgemeinen Sinne) ausmachen und von Nicht-Orten unterscheiden. Mit dem Vorhandensein der Skulptur in der Lanschaft können nun auch räumliche Beziehungen beschrieben werden. Die Skulptur definiert die Landschaft neu, in dem sie quasi das Zentrum, den Nullpunkt eines imaginären Koordinatensystems bildet, das die drei Dimensionen des Raumes angibt. Ähnliches leisten die Land-art-Setzungen. Die schöpferische, gestaltende, der Entropie entgegentretende Kraft des Künstlers wird bei diesen Arbeiten vielleicht noch deutlicher als bei den Skulpturen. Dem stetigen Streben der Dinge nach gleichmäßiger Verteilung, nach Gleichförmigkeit, das in der fotografierten Landschaft zum Ausdruck kommt, tritt der Künstler entgegen, indem er dieselben verstreuten Dinge zusammenträgt, in eine bestimmte Ordnung bringt, gestaltet (Feld I, II, III, Abb. 4, 5, 6). Nur durch die augenfällige künstlerische Gestaltung, die von der aufgebrachten Energie ebenso wie von dem gestalterischen Willen zeugt, und nicht durch fremdes Material heben sich die Land-art-Arbeiten deutlich von der Landschaft ab, werden sie ebenso wie die Skulpturen zu Markierungen, die einen Ort schaffen und ihm eine unverwechselbare Gestalt geben.


Der Mensch

Die Wahrnehmung bzw. Erfahrung von Landschaft und Kunstwerk setzt die Anwesenheit des Menschen voraus, sei es als Betrachter und/oder als Agierender. Nun vertritt zwar das Objektiv der Kamera das menschliche Auge in der Rolle des unbeteiligten Betrachters. Darüber hinaus gehend bringt Jens Reulecke jedoch den Menschen direkt als drittes Motiv ins Bild. Der Mensch wird agierend bzw. reagierend gezeigt. Er verhält sich auf verschiedene Art und Weise zu der Skulptur, einmal in regloser Anschauung (o.T., Abb. 18), einmal in Bewegung, die Skulptur umschreitend (Kreisen, Abb. 15). In anderen Fotografien zeigt er weitere Verhaltensweisen gegenüber der Skulptur oder der Land-art-Setzungen, wie das Einnehmen bestimmter Positionen, das Ausführungen bestimmter Handlungen (Rituale) oder das Beschreiben bestimmter Wege. Der Mann in den Fotografien repräsentiert trotz seiner Individualität weniger sich selbst, sondern den Menschen in einem allgemeinen Sinne. Er stellt eine Identifikationsfigur dar und steht damit stellvertretend für den Betrachter. Er zeigt Möglichkeiten eines aktiven Dialogs mit den Kunstwerken auf, der über die reine Anschauung hinausgeht und eine besondere Art der Auseinandersetzung und der Aneignung beinhaltet. In einer Ausstellung der Skulpturen und Fotografien von Jens Reulecke wird der Betrachter selbst aufgefordert, in den direkten und unmittelbaren Dialog mit der einen oder anderen Skulptur einzutreten, sie in ihrer körperhaften Präsens, ihrer materiellen und formalen Erscheinung und ihrer Beziehung zum Raum zu erfahren und seine eigene Position zu suchen und zu bestimmen.



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ORTSMARKIERUNGEN
ÜBER DIE SKULPTUREN UND FOTOGRAFIEN VON JENS REULECKE

von Paul Corazolla

Weite, Horizont, Stille. Dahinter ein unendliches Weiter und Mehr. Wie lebt man, wie denkt man, wie fühlt und gestaltet man als europäischer Künstler angesichts solcher Erfahrungen? Kann man sich uns, den Übersättigten, Vollgestopften, nach immer neuen Reizen Gierenden noch verständlich machen? Jens Reulecke lebt seit 1992 im Niger. Westlicher Zeitgeist hat hier keine Stätte. Horizonte, die unsere Diesseitigkeit bereits gründlich verstellt haben, sind noch offen. Was sich dem Betrachter von Reuleckes Arbeiten zeigt, ist karg. Kargheit ist vielleicht das erste Signal, das aus jener Welt kommt, in der Jens Reulecke lebt. Rauschende Augenfeste, die Opulenz raffiniert-ästhetischer Arrangements, marktschreierische oder egomanische Attituden gehören nicht zum Bestand einer Kunst, die angesichts der Weite und Stille des Landes und angesichts der Kargheit von Lebensmarkierungen ganz andere Zeichen hervorbringt. Ist diese Zeichensetzung eine anschaubare Alternative zu den uns gewohnten Erfahrungen und Erwartungen? Welche Botschaft hat sie? Wenn Jens Reulecke von seinen in Afrika entstandenen Arbeiten spricht, verwendet er Vokabeln, die uns im Blick auf zeitgenössische Kunst vertraut sind. Materialien wie Leder, Holz, Eisen, Stoffe, Sand finden sich, - teilweise im Rückgriff auf Elementarkulturen, - in vielen Werken westlicher Künstler. Das sie auch im Werk von Jens Reulecke dominieren, hängt mit ihrer Verwendung im nigrischen Alltag zusammen, aus dem Reulecke den Stoff seiner Arbeiten bezieht. Jens Reulecke spricht von Orten bewegter Stille, die in seinen Arbeiten die Stelle einstiger wilder Bewegungsabläufe eingenommen haben. Äußerlich zeigt sich das in einem Ensemble festgefügter, nunmehr oft großzügiger geometrischer Formen, etwa in den Schicht für Schicht aueinander gestapelten Hölzern oder den ineinander ruhenden Formen, die in ihrer reduzierten Klarheit und Dichte eine Aura der Stille und Konzentration schaffen. Die Fotos der Ortsmarkierungen in der nigrischen Landschaft betonen das Angebot unterschiedlicher Verhaltensweisen in einem gegebenen Raum. Die Möglichkeiten des Menschen sich vorsichtig anzunähern, sich zu verbinden. Ein Spiel mit verschiedenen gleichberechtigten Möglichkeiten von Nähe, das im nächsten Moment zur Ruhe kommt und in die Stille führt. Spuren einer verborgenen Gegenwärtigkeit sind auf der metallischen Fläche der Wandplastik, in Schwebe, ablesbar. Auf dem Boden davor steht eine Holzskulptur, Schale, als Zeichen des Empfangens ebenso wie des Haltens. Beide Objekte zusammen (Abb. 3) assoziieren eine Opferstätte, einen verborgenen Vorgang des Lassens und der Hingabe. Kargheit der Zeichen, die nichts aufdrängen, sondern behutsam Erfahrungen anregen, einen anderen Zugang zum Leben öffnen möchten. Jens Reulecke spricht von Übergängen in eine andere Sphäre, die er mit dem Ausstellungstitel secret spaces, geheime Orte, umschreibt. Etwas, das dem Leben innewohnt, sich aber nur bedingt offenbart. Reuleckes Orte sind jedoch keine Bleibe auf Dauer. Ihre Markierungen sind Zeichen eines Weges, den wir gehen, um unseren letzten Ort, die Welt, am Ende zu überschreiten. Wohin? Jens Reulecke und seine nigrischen Freunde interessiert diese Frage wohl brennender als Show, Fußball und Börsenkurse. Zu recht.