in cooperation with Kunstverein Tiergarten

 

Kunstfestival in Moabit und im Hansaviertel
20. – 22.09.2024

 

THEMA: FLEISCH

Auch 2024 lädt der Kunstverein Tiergarten zum Kunstfestival ORTSTERMIN ein. Künstler:innen und Kulturschaffende in Moabit und im Hansaviertel können teilnehmen und von Freitag, 20.09. bis Sonntag, 22.09. ihre Arbeiten und Projekte präsentieren. Das Festival steht in diesem Jahr unter dem Thema: Fleisch!

In Deutschland ernärt sich mittlerweile jede:r Zehnte vegetarisch und Fleischkonsum wird in ethischer oder ökologischer Hinsicht zunehmend kritisch betrachtet. Doch Fleisch ist nicht nur ein Nahrungsmittel, sondern auch gesellschaftliche Projektionsfläche. So lässt sich entlang des Fleisches auch die Entwicklung der Stadt und des Stadtteils Moabit nachvollziehen. 1910 beteiligten sich 30.000 Menschen an den Moabiter Unruhen, als streikende Arbeiter:innen, aufgebracht unter anderem durch steigende Fleisch- und Fettpreise, mit Polizist:innen und Streikbrecher:innen gewaltsam aufeinander trafen. Seit der Reichsgründung 1871 stieg die Lebensqualität vieler Menschen und es wurde einer breiten Bevölkerung der Zugang zu Luxusgütern ermöglicht. Insbesondere der Fleischkonsum lässt direkte Rückschlüsse auf den Wohlstand des Einzelnen zu und steht in direkter Wechselwirkung mit der Industrialisierung. Schweinefleisch, das in der Produktion in Stücke unterschiedlicher Qualität zerlegt werden konnte, ermöglichte die gezielte Herstellung von Produkten für unterschiedliche Konsumentenschichten. So konnten und sollten auch Arbeiter:innen Fleisch zu einem Preis erwerben, der es ihnen ermöglichte, die für ihre Tätigkeit notwendige Energie aufzubringen. Das einstige Luxusgut wurde zum zentralen Lebensmittel der europäischen Moderne und der Schlachthof zum Knotenpunkt der Industrialisierung. Die Metropole wuchs und ihre Einwohner:innen mussten ernährt werden. Die Schlachthöfe außerhalb der Stadt wurden über Eisenbahnschienen mit Markthallen wie der Arminiusmarkthalle verbunden, die das Fleisch an Metzger:innen und Endverbraucher:innen verteilten. Über dieselben Schienen wurden im Dritten Reich Deportationen in die Konzentrationslager durchgeführt, woran heute noch das Mahnmal Levetzowstraße erinnert. Die Verwandlung von Fleisch in ein industrielles Produkt und die Unsichtbarmachung des Tieres in seiner Produktion eröffneten ein ökonomisches Potential und macht das Fleisch zu einem abstrakten Ding, dem verschiedene symbolische Bedeutungen zugeschrieben werden konnten und bis heute werden.

Tierische Nahrungsmittel haben einen besonderen Status, der auch in ein kulturelles System von Werten, Traditionen und Symbolen eingebettet ist. Der Umgang mit Fleisch ist in verschiedenen Religionen und Kulturen mit spezifischen Regeln, Bräuchen und oft auch Tabus oder Reinheitsvorstellungen belegt. In den christlichen Religionen wird Gott in der Gestalt Jesu Christi Fleisch und damit Mensch. Während der katholischen Messe nehmen die Gläubigen das Blut und den Leib Jesu zu sich, nachdem der Priester Brot und Wein verwandelt hat. Im Judentum ebenso wie im Islam gilt nur dasjenige Fleisch als essbar, das den Regeln gemäß geschlachtet wurde und nicht bereits verendete – Schweinefleisch gilt sowohl nach der Tora als auch nach dem Koran als unrein. Zu Kolumbus‘ Zeiten diente der Begriff der „Kannibalen“, der Bevölkerungsgruppen Amerikas bezeichnete, die zeremonielle Einverleibungen praktizierten, zur Rechtfertigung der Kolonisierung des Kontinents. In der europäischen Vorstellung drohten die vermeintlich “wilden” Völker, die Christen Europas zu verschlingen. Ironischerweise waren es die Europäer, die sich den Kontinent einverleibten: durch rohe Gewalt, Massenmord, die Eingliederung in europäische Königreiche und ihre diskriminierenden Gesellschaftsformen sowie durch die Plünderung von Bodenschätzen.

Diese Ebenen spielen auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen eine Rolle. Die Familie wird als “eigenes Fleisch und Blut” betrachtet. Romantische Partner:innen hat man “zum Fressen gern”, man verzehrt sich nach dem sinnlichen fleischlichen Körper des anderen, möchte letztendlich mit ihm verschmelzen. Auch der menschliche Körper ist ein fleischlicher, was uns zum Beispiel immer dann bewusst wird, wenn der “Geist willig”, aber “das Fleisch schwach” ist. Fleisch kann auch für ein patriarchales Weltbild und Geschlechterklischees stehen. Das beginnt damit, dass Grillen vermeintlich “Männersache” ist, attraktive Frauenkörper mit einem Stück Fleisch gleichgesetzt werden, weil “nur Hunde mit Knochen spielen” und gipfelt in der kompletten Objektifizierung des weiblichen  Körpers in der “Fleischbeschau” im Kontext von Sexarbeit.

Der ORTSTERMIN 2024 wird sich unter anderem diesen Aspekten widmen und wir laden die Teilnehmenden dazu ein, sich in allen Bereichen und Bedeutungsebenen des Begriffs Fleischs einzubringen. Die Teilnehmenden des ORTSTERMIN werden dieses Jahr dazu aufgefordert, hinzuschauen, wo gefressen, verschluckt oder etwas eingenommen wird. Ausgehend von der Geschichte Moabits, die eng mit der Geschichte des Fleisches verbunden ist, möchten wir die Vergangenheit und Gegenwart des Stadtteils neu verhandeln. Wie lebt das Viertel, wo pulsiert es, wo wird es lebendig, wo wird es leidenschaftlich? Was manifestiert sich am eigenen Körper, wird sichtbar und wie berühren Vorstellungen von Macht und Herrschaft unser Leben? Fleisch war und ist immer ein gesellschaftlicher materieller Kristallisationspunkt und spielt jenseits des Verfechtens und Ablehnens eine zentrale Rolle in der politischen, ökonomischen und kulturellen Landschaft. Denn Fleisch ist Macht, kann aber auch Werkzeug sein, um komplexe Verhältnisse zu untersuchen.

Macht mit! Werdet mit eurem Atelier, eurer Galerie, eurer Sammlung oder eurem (Ausstellungs-)Projekt Teil des ORTSTERMIN 24 und meldet euch bis zum 15.06. an! Ihr habt freie Räumlichkeiten, ein Lokal oder ein Schaufenster und wollt dabei sein? Meldet euch! Wir können ein passendes Projekt vermitteln.

for further information
https://ortstermin.kunstverein-tiergarten.de/open-call-2024/